Sonntag, 12. Februar 2012

Ernährung und Erziehung: Schulklassen sollten Schlachthöfe besuchen.

Die Überzeugung, eine gesunde Ernährung sei nur mit Fleisch möglich, ist in den meisten Fällen anerzogen. "Was der Bauer nicht kennt, frisst er nicht" lautet ein bekanntes Sprichwort. Umgekehrt gilt natürlich das gleiche: "Was der Bauer (oder wer auch immer) kennt, frisst er". Und so ist es nur verständlich, dass ein Mensch, dem der tägliche Fleischkonsum von Anfang an vorgelebt wurde, dies für selbstverständlich und richtig hält und übernimmt. So wird es Menschen, die aus Familien kommen, in denen viel Fleisch gegessen wird umso schwerer fallen, mit dieser Ernährungsgewohnheit zu brechen. Umso wichtiger ist es, Kinder schon früh für dieses Thema zu sensibilisieren. Kinder sind sensibler als Erwachsene und haben noch ein natürliches und unverfälschtes Gerechtigkeitsempfinden. Gerade deshalb sollten Kinder wissen, wo das Fleisch auf ihrem Teller herkommt - und wie es entstanden ist. Die Konsequenz: Alle Schulklassen sollten mindestens einmal einen konventionellen Schlachthof besuchen. Das Argument, man könne Kindern so etwas nicht zumuten, ist pure Heuchelei. Wer tote Tiere ist, der soll auch wissen, wie diese Tiere getötet wurden - egal wie alt er ist. Es ist wichtig, die grausame Wahrheit über unsere Fleischindustrie zu kennen, um zu entscheiden, ob wir da mitmachen wollen oder nicht. Auch Kinder sind in der Lage, Entscheidungen zu treffen, und Verantwortung für ihre Umwelt zu tragen.

Der SPIEGEL berichtete im Januar über ein Kinderhilfswerk in Berlin, das junge Menschen zu gesunder Ernährung erziehen will. Zu Gast war der bekannte Koch und Veganer Björn Moschinski, der den Kindern zeigte, dass auch vegane Gerichte lecker sein können. Der Bericht verdeutlicht wieder einmal, dass Bildung eine entscheidende Rolle für die Art der Ernährung spielt - je geringer die Bildung, desto geringer auch die Wahrscheinlichkeit einer bewussten und damit vegetarischen Ernährung:

Der SPIEGEL, 16.01.2012:
 Im Lande Tofu
Von Gutsch, Jochen-Martin
Ortstermin: Das Kinderhilfswerk will junge Menschen in einem Berliner Problembezirk zu gesunder Ernährung erziehen.
 
Während Björn Moschinski eine Kiste Kürbisse hineinträgt, erklärt Theresa Reppenhagen die Sache mit der Bärchenwurst.
"Warum sieht die Wurst so aus, was denkt ihr?", fragt Reppenhagen und hält ein Bärchenwurstfoto hoch.
Vor ihr sitzen 18 Kinder an Tischen und schauen auf die Wurst in Bärchenform. "Kinder sollen das niedlich finden", sagt Frau Reppenhagen mit leicht brüchiger Stimme. "Sie sollen nicht daran denken, dass die Wurst aus einem Tier gemacht wurde, das leben wollte."
Zwei, drei Kinder kichern. Vielleicht aus Verlegenheit. Vielleicht, weil sie erst acht Jahre alt sind. Man hat ihnen erzählt, dass heute ein berühmter Koch vorbeikommt, hier in Berlin-Hellersdorf-Nord, um mit ihnen zu kochen. "Veganer Projekttag" heißt das Ganze, organisiert vom Deutschen Kinderhilfswerk und der Albert Schweitzer Stiftung. Aber Theresa Reppenhagen, eine runde Frau, von Beruf Tierschutzlehrerin, hat noch eine Frage.
"Alle Tiere wollen in Freiheit leben. Wir aber essen gern ihre Eier. Was machen wir da also?"
Ein Junge meldet sich. "Gar nichts", sagt er. "Einen Aufstand!", rät ein Mädchen. "Tofu essen?", fragt ein Junge.
Das ist das Zauberwort. "Ein toller Vorschlag", sagt Reppenhagen. "Ich habe früher auch Fleisch gegessen. Dann habe ich aber schreckliche Filme gesehen. Darüber, wie Tiere leiden. Ich habe geweint, wirklich geweint. Wenn nun kein Mensch mehr Fleisch essen würde und niemand mehr Tiere einsperrt, wäre das nicht toll?"
Die Kinder schauen Frau Reppenhagen an, als wollten sie sie trösten. "Deshalb ist heute der berühmte Koch Björn hier", sagt Reppenhagen. "Er wird euch zeigen, wie man tierfreundlich kocht."
Der Koch heißt mit vollem Namen Björn Moschinski, 32, betreibt ein veganes Gourmet-Restaurant in Berlin-Mitte, schreibt vegane Kochbücher, spricht manchmal im Fernsehen über veganes Kochen und lebt "aus Überzeugung" vegan, seit er 15 Jahre alt war. Vegan heißt: kein Verzehr tierischer Produkte. Also auch keine Eier, keine Milch, kein Honig. Moschinski steht dabei in der noch jungen Tradition des Kochs als Pädagoge. Jamie Oliver sorgt in britischen Schulen für gesundes Essen. Christian Rach rettet auf RTL Restaurants vor der Pleite. Björn Moschinski will den Veganismus nach Hellersdorf-Nord bringen. Das ist sicherlich die schwierigste Aufgabe.
"Wisst ihr denn überhaupt, was das ist, vegan?", fragt Björn Moschinski.
Ein Junge meldet sich.
"Ein Land!", sagt er.
Im Prinzip ist das gar nicht falsch. Vegan ist ein fernes, fremdes Land, von Hellersdorf-Nord aus betrachtet. So wie das Land Zamonien in den Büchern von Walter Moers. Die Kinder sitzen hier im "Haus Babylon", einem Sozialprojekt, untergekommen in einem dreigeschossigen DDR-Bau, von dem die Leiterin sagt, er sei "sanierungsbedürftig". In den nächsten zwei Stunden fällt dann auch fünfmal der Strom aus. Katja Franckowiak, die Klassenlehrerin, sagt, dass von den Kindern niemand Vegetarier oder Veganer sei. Dafür seien von den Eltern rund 70 Prozent Hartz-IV-Empfänger.
Tiere sind in Hellersdorf-Nord nicht die einzigen Lebewesen mit Problemen, heißt das wohl. Warum ist die Klasse überhaupt hier? "Ich wollte ja nur einen Raum für den Kinderfasching buchen", sagt Franckowiak. Dann habe man sie gefragt, ob die Klasse an einem "Veganen Projekttag" teilnehmen könnte. "Von einem Tierschutzvortrag war nie die Rede", sagt Franckowiak und rollt die Augen.
Zum Glück wird gekocht. "Hokkaidokürbiscremesuppe, Mangolassi und Spaghetti bolognese mit Soja", sagt Björn Moschinski, der mit Dreadlocks, Kopftuch, Koteletten aussieht wie ein RTL-Fernsehkoch, und der den Ernährungszeitgeist von Berlin-Mitte nach Hellersdorf-Nord trägt.
Der Zeitgeist heißt: Bewusstsein. Früher aß man in Deutschland eher unbewusst und unpolitisch. Essen war keine Gewissensentscheidung. Wichtig war, dass genug da war. Heute soll Essen gesund sein oder biologisch oder vegetarisch oder vegan. Je nachdem. Sag mir, wo du stehst.
"Essen heißt eine Entscheidung treffen", meint Moschinski. Die Frage ist nur: Wann fängt man damit an? Die Kinder gehen in die dritte Klasse. Sie halten "Vegan" für ein Land.
"Man kann sogar noch früher anfangen", sagt Moschinski und wischt die Hände an seiner Kochschürze trocken, auf der "Vegan Head Chef" steht. "Meine Nichten sind auch Veganer." Wie alt sind die? "Fünf und sieben", sagt Moschinski. Dann erzählt er von seinem Restaurant in Mitte, den Weinen, der Innenarchitektur, dem Lichtkonzept. Währenddessen fällt im Haus Babylon der Strom aus.
Als die Soja-Bolognese und die Hokkaidokürbiscremesuppe fertig sind, essen die Kinder. Niemand beschwert sich. "Vegane Küche kann lecker sein", sagt Moschinski in die Runde. Es klingt wie eine Losung. Ein veganischer Merksatz für Hellersdorf-Nord.
Dann tippt ein Mann, Mitarbeiter im Haus Babylon, Moschinski auf die Schulter. "Woll'n Se vielleicht Kaffee?"
"Gern", sagt Moschinski.
"Mit Milch?", fragt der Mann.

Quelle: DER SPIEGEL 3/2012
http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-83588356.html

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